Wer weiß heute noch, dass im Mittelalter nicht Hopfen, sondern eine “Grut” genannte Kräuter- und Gewürzmischung zum Bierbrauen verwendet wurde? Die Germanen haben ihrem Bier Met – also Honig – zugesetzt, um es haltbarer zu machen. In den Anden wird heute noch eine uralte Technik zum Bierbrauen angewendet: Und zwar beim Chicha – einem Maisbier, das auf traditionelle Weise durch das Kauen und Freisetzen von Speichelenzymen hergestellt wird. Denn die Enzyme in unserem Mund sind weitgehend die Gleichen, die beim Maischen die Getreidestärke in Zucker umwandeln. Auf diese Weise haben die Menschen wahrscheinlich schon vor 10.000 Jahren Bier hergestellt.
Im Laufe der Zeit und vor allem mit dem Aufkommen von industriellen Prozessen bei der Bierproduktion sind unzählige alte Bierstile und Brauverfahren leider ausgestorben. Ein paar haben dank einiger Enthusiasten überlebt. Zum Beispiel die in ihrer originalen Form in Deutschland nahezu ausgestorbene Berliner Weisse. Auch die Gose sowie Rotbier und Keutebier wären fast verschwunden, wurden dann aber wiederentdeckt. Auch in Frankreich gab es früher jede Menge Kleinstbrauereien, die ganz eigene Biersorten hervorbrachten – etwa das Bière de Garde im Norden und das Kastanienbier in Südfrankreich und Korsika. Die älteste noch weitgehend erhaltene Bierkultur in Europa haben sich die Belgier bewahrt, die zumindest ihre traditionellen Biere spontan vergären lassen, also mit wilden und nicht industriell gezüchteten Hefestämmen.
Alte Bierstile aus Köln
Alte Bierstile wieder zum Leben zu erwecken, ist eine spannende Sache. In Köln hat sich der Verein der Kölner Bierhistoriker genau das zur Aufgabe gemacht und zum Beispiel den im 18. und 19. Jahrhundert in Köln beliebten Bierstil “Knupp” wiederbelebt. „Als Hobbybrauer habe ich schon vor einigen Jahren Probesude gemacht. Anfangs schmeckte das Knupp noch extrem röstig“, erzählt Jürgen Knoke, Vorsitzender der Kölner Bierhistoriker, wie es zu dieser Wiederbelebung kam. Zusammen mit anderen Hobbybrauern wurde dann immer weiter an der Rezeptur gefeilt und immer wieder nach Hinweisen in alten Büchern und Zeitschriften Ausschau gehalten. „Endlich stand die Rezeptur, und wir waren mit dem Ergebnis sehr zufrieden“, resümiert Martin Heinz, zweiter Vorsitzender der Bierhistoriker und ebenfalls Knupp-Spezialist. Für die Öffentlichkeit wieder verfügbar gemacht hat das Knupp letztlich Michael Roeßgen, Gründungsmitglied der Bierhistoriker und Biersommelier. Roeßgen eröffnete 2017 auf dem Heinenhof im idyllischen Pulheim-Orr gleich hinter der Kölner Stadtgrenze eine Mikrobrauerei, die unter dem Label Craftbeer Creations Cologne auch historische und kreative Biere produziert.
Dieses wiederbelebte Knupp gibt es exklusiv im Bauernladen des Heinenhofs in Pulheim-Orr. Wenn ein Kölner also eine Flasche dieses „verbotenen Bieres“ haben will, muss er wie früher vor die Tore der Stadt „pilgern“. „Das bleibt auch so“, sagt der Mikrobrauer. „Die Süffige Sünde“, wie das Knupp hier heißt, „gab es ja früher nur außerhalb von Köln. Schön, dass sich die Grenzen verschoben haben, denn jetzt trägt unsere Mikrobrauerei mit dazu bei, dass der katholische Kölner wieder sündigen darf“, fügt er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. In zahlreichen Edikten des Rates der Stadt Köln, z. B. 1672 und 1755, wurde den Kölnern nämlich untersagt, das Knupp zu trinken, das nach Ansicht der damaligen Stadtväter ungesund sei und krank mache und „Knuppereien“ – meist mit einhergehenden Blessuren – heraufbeschwöre. Ratsbediensteten wurde bei Genuss des Knupp sogar mit dem Verlust des Arbeitsplatzes gedroht! (Der Text in diesem Absatz wurde weitgehend übernommen von der Website des Heinenhofs.)
Der “Indianer Jones” des Bieres
Patrick McGovern, der wissenschaftliche Direktor des Biomolecular Archaeology-Projects am Penn Museum der University of Pennsylvania , gilt als einer der weltweit versiertesten Experten für historische Biere. McGovern sucht und sammelt alte Gefässe mit Rückständen von alkoholischen Getränken, um diese mithilfe wissenschaftlicher Verfahren, sprich DNA-Analyse, Massenspektrometrie, Radiokarbondatierung zu analysieren und herauszufinden, wann sie hergestellt wurden. Spuren von Kalziumoxalat weisen beispielsweise auf Gerstenbier hin, während Weinsäure ein Marker für Traubenwein ist. Bienenwachs-Verbindungen dagegen deuten auf Met-Bier hin. McGovern identifizierte so das älteste bekannte Gerstenbier der Welt aus dem Zagros-Gebirge im Iran, datiert auf 3.400 vor Christus. Außerdem ein 9.000 Jahre altes, neolithisches, alkoholhaltiges Getränk aus dem Yellow River Valley in China. Das Rezept für dieses Getränk findet sich in McGoverns Buch Ancient Brews .
Im Jahr 2005 arbeitete McGovern mit der Delaware Brewery Dogfish Head zusammen, um dieses uralte Getränk, das sie Chateau Jiahu nannten, wiederzubeleben. Sie versuchten möglichst originalgetreue Zutaten zu verwenden, also Orangenblütenhonig, Muskat-Traubensaft, Gerstenmalz und Weißdornfrucht, wobei die Würze mit Sake-Hefe fermentiert wurde. Das trockene, blumig-honigfarbene Gebräu hat Bierkenner aus aller Welt begeistert – und das nicht nur wegen der Stärke von zehn Vol.-Prozent Alkohol.
Das deutsche Reinheitsgebot, nachweislich erstmals 1516 in Bayern erlassen, besagte, dass Bier ein Getränk sei, welches nur mit Wasser, Hopfen und Gerste zubereitet werden dürfe. Von Hefe wusste man damals noch nichts. McGovern und andere Forscher haben gezeigt, dass die Entstehung des Brauens jedoch viel interessanter und farbenfroher war als das, was wir später mit Reinheitsgebot und industriellen Prozessen daraus gemacht haben. Historische alkoholische Getränke wurden mit den Zutaten erzeugt, die in den jeweiligen Regionen verfügbar waren und spiegelten somit die lokale Kultur und Umgebung wider.
McGoverns Buch enthält weitere antike Rezepte, etwa für ein europäisches Bier namens Kvasir, das von den Rückständen eines Getränks inspiriert wurde, das in einem 3.500 Jahre alten Grab in Dänemark gefunden wurde. Als Würze dienen Mädesüß (Rosengewächs), Schafgarbe, Birkenrinde und Preiselbeeren. Interessant ist auch ein südamerikanisches Bier, das McGovern nach dem lateinischen Namen für Schokolade “Theobroma” nannte. Vor 3.200 Jahren stellten es die Olmeken im heutigen Honduras her. Die Basis: fermentierter Mais, Kaffee-Malz, Kakao, getrockneter Ancho-Chili, Annatto-Samen und Honig.
Neben diesem Buch gibt es noch weitere Quellen für antike Rezepte, die moderne Brauer heute zu Rate ziehen können, wenn sie antike Biere herstellen möchten. 2018 braute die kanadische Brauerei Barn Hammer’s Head zusammen mit Matt Gibbs von der Universität Winnipeg ein Bier inspiriert von einem Gebräu aus dem 4. Jahrhundert vor Christus. Aufgezeichnet hat das Rezept Zosimus, einem Alchemisten, der in Ägypten unter römischer Herrschaft lebte. Zu finden ist das Rezept im Buch The Barbarian’s Beverage: Eine Geschichte des Bieres im alten Europa von Max Nelson aus dem Jahr 2008.
Das Bier – hergestellt aus einer Sauerteigbrot-Hefe – war anfangs hell, aber trüb. Nach zehn Tagen wurde es jedoch etwas klarer, sodass es fast einem zeitgenössischen hellen Bier ähnelte. Mit einem Alkoholgehalt von 3 Vol.-Prozent. Geschmacklich ging es in Richtung saurer Apfelwein mit einem Hauch von Rosinen. “Gehen sie nicht davon aus, dass dies wie ein modernes Bier schmeckt”, sagte Gibbs. „Dieses Bier ist sehr sauer. Aber es ist gut.”. Tyler Birch, Inhaber von Barn Hammer, meinte sogar: “Ich bin begeistert, wie gut es ist. Es ist sehr trinkbar.”
Die Wiederbelebung alter Biere bietet jede Menge Potenzial für heutige Craftbeer-Brauer. Unsere Altvorderen waren ernorm kreativ, wenn um das Brauen von Bier ging. Sie experimentierten mit allen möglichen Pflanzen und Stoffen, die sie in ihrer unmittelbaren Umgebung vorfanden und gaben ihr Wissen an die nächste Generation weiter. Vieles ist leider dennoch für immer untergegangen, aber längst nicht alles, wie die aufgeführten Beispiele zeigen. „Ich bin der Meinung, dass wir enorm viel von unseren Vorfahren lernen können, was das Brauen von Bier betrifft“, meint McGovern. “Es hat etwas von ‘Zurück in die Zukunft’ – oder anders ausgedrückt: Um weiterzugehen, lohnt es sich manchmal, zurückzublicken”. (Dieser Text ist eine freie Übersetzung, Zusammenfassung und Ergänzung des im englisch-sprachigen Online-Magazin “October” erschienen Artikels von Norman Miller. Hier findet Ihr das Original.)